Am späten Nachmittag des 23. Oktober 2015 steuerte ich meinen Wagen auf der B292 gen Osten. Es war wieder einmal Zeit für das jährliche Probenwochenende mit der SAP Big Band. Diese Tage gehören definitiv zu den Highlights in meinem persönlichen Jahreslauf, und so brachte ich Kilometer um Kilometer erwartungsfroh hinter mich. Mein Ziel war die Musikakademie Weikersheim. Ich konnte ja nicht ahnen, was mich dort erwartete.
Unser Bandleader Thomas S. hatte die erste Probe für 19.15 Uhr angesetzt und im Vorfeld mahnende Worte gesprochen, was die freitagabendliche Verkehrssituation auf der A6 und der A81 angeht. Da ich mir seine Worte stets zu Herzen nehme, war meine Wahl auf die Überlandroute gefallen. So tuckerte ich auf der Landstraße von Ort zu Ort.
Die Nachmittags-Playlist auf SWR3 lieferte Hits zum Mitsingen („Achy Breaky Heart“, „Always Look on the Bright Side of Life“), deren Bedeutung für das Wochenende ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht erkennen konnte. In meinem Rucksack steckte ein leckeres Butterbrot und ich war guter Dinge. Mit der Gesamtsituation vollumfänglich einverstanden. Unbefangen und fröhlich. Im Flow.
Als mir dann kurz vor dem Ziel ein greller Lichtblitz signalisierte, dass ich die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten hatte, war das wie eine kalte Dusche. Trotzdem ignorierte ich entschlossen die leise Stimme in meinem Kopf, die mir zuflüsterte, dass dieses Missgeschick doch ein prima Grund sei, gleich mal so richtig mies draufzukommen. Bei genauerem Hinhören hätte ich gemerkt, dass es niemand anderes als der Volksmund war, der mir verschwörerische Botschaften ins Ohr raunte. "Ein Unglück", so sprach der Mund, "kommt selten allein.“
Work hard, play hard
Bevor ich erzähle, was anschließend geschah, gestatten Sie mir einen kurzen Exkurs, um für den unwahrscheinlichen Fall vorzusorgen, dass dies Ihr erster Probenwochenendenbericht ist. Hier die Fakten im Schnellcheck: Die SAP Big Band veranstaltet immer Ende November ein ganz besonderes Konzert für SAP-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter und deren Familien. Wir nennen es intern das „Jahreskonzert“. Hier wird das neue Programm vorgestellt, das uns anschließend auf unseren Konzerten im Rhein-Neckar-Kreis und darüber hinaus begleitet. Das Probenwochenende dient dazu, das Jahreskonzert vorzubereiten. Es ist eine sehr intensive Veranstaltung: Tagsüber wird geprobt, bis Lippen, Finger und Handgelenke schmerzen. Nachts wird gefeiert.
Ich habe nichts anzuziehen
Obwohl ich auf dem letzten Streckenabschnitt die vorgeschriebene Geschwindigkeit peinlich genau einhielt, erreichte ich das Logierhaus der Musikakademie pünktlich mit einem kleinen Puffer zum Probenbeginn. Unsere Tenor-Saxofonistin und Chef-Organisatorin Anja R. stand an der Rezeption bereit, um den Ankömmlingen den Weg zu weisen und bestätigte, dass gerade noch genug Zeit sei, um einzuchecken und das Gepäck aufs Zimmer zu bringen. Ich flitzte noch einmal zum Wagen, dann zurück zur Rezeption, und kaum hielt ich den Zimmerschlüssel in der Hand, rutschte mir in der Eile ein Gurt von der Schulter und meine Reisetasche fiel zu Boden.
Nun hatte ich unvorsichtigerweise eine Literflasche Spätburgunder zwischen meinen Kleidern deponiert, um die Grundversorgung sicherzustellen. Schließlich weiß man nie, was einen vor Ort erwartet. Nach dem Aufprall wartete ich vor Schreck erstarrt darauf, dass der Rebensaft durch den Reißverschluss der Tasche auf die hellen Fliesen der Lobby strömen würde. Dabei dachte ich zunächst gar nicht an meine Kleidung. Ich fühlte mich eher wie damals, als wir auf Klassenfahrten unerlaubte Getränke im Gepäck und gleichzeitig eine Heidenangst hatten, erwischt zu werden. Doch nichts passierte. Die Kacheln blieben trocken. Ich trug meine Tasche erleichtert in den zweiten Stock. Als ich sie dort öffnete, wurde mir klar, warum der Wein nicht ausgelaufen war. Meine Kleidung hatte ihn vollständig aufgesaugt.
Als ich kurze Zeit später in der Probe saß, musste ich an das Probenwochenende 2014 denken. Damals hatte ich mich unter Schmerzen auf einen Schalldämpfer gesetzt, der hinter mir auf dem Stuhl stand. Der Unfall mit der Flasche wog aber auf jeden Fall deutlich schwerer, denn kein einziges Kleidungsstück war mehr zu gebrauchen. Alles war nass und duftete nach dem Wein, den ich nie trinken würde. Ich hatte keine Polo-Shirts mehr, keine Jeans, keine Socken, keine Unterwäsche. Übrig war nur das, was ich seit 12 Stunden auf dem Leib trug.
Ein ganz normaler Freitagabend
Musikalisch gesehen verlief die erste Probe wie erwartet. Das Probenwochenende gibt Thomas ausreichend Gelegenheit, uns ins Gewissen zu reden, damit nachher die Qualität stimmt. „In Takt 92 die „3 und“ war fantastisch. Habt ihr das auch so empfunden?“, fragte er etwa bei Told You So die Saxofone in einem flachen, unmodulierten Tonfall, der dem erfahrenen Bigband-Mitglied nichts Gutes verheißt. Und wenig später, als ich meiner Verstimmung bei The Goodbye Look mit einer brachial gespielten Viertel Ausdruck verlieh, teilte er mit den Anwesenden die Vermutung, dass ich, Hendrik, „in der Vorlesung über Eleganz gefehlt“ haben müsse.
In diesem Sinne nahm der Freitagabend einen ganz normalen Verlauf. Unser Proberaum in Schloss Weikersheim war sehr angenehm. Notenständer wurden zur Verfügung gestellt und Teppichboden und Decke sorgten für eine wenig anstrengende Akustik. In der Pause nahm ich zahlreiche Hilfsangebote in Sachen Kleidung entgegen, bevor wir uns irgendwann zwischen 22.00 und 23.00 Uhr im Jeunesses-Keller des Schlosses niederließen, um den Abend ausklingen zu lassen.
Kleiderkauf und Soloklau
Die Probe am Samstagmorgen begann mit Splanky, einem meiner Favoriten aus dem neuen Programm. Schon vor dem ersten Ton meldete Alt-Saxofonist Jochen R. den Wunsch auf ein Solo an. In diesem Zusammenhang muss man wissen, dass das Probenwochenende der finale Umschlagplatz für die beim Jahreskonzert zu spielenden Soli ist. Hier wird schnell und hart verhandelt und man muss sehen, wo man bleibt. Thomas antwortete, er sei „ziemlich sicher, dass wir es nicht bis zum Solo schaffen“, woraufhin Jochen sich in falscher Sicherheit wiegte. Als wir uns nämlich wider Erwarten doch bis zum Solo vorgearbeitet hatten, war er gerade in eine unerlaubte Konversation mit seinem Sitznachbarn vertieft. Anna T. (Bariton-Saxofon) nutzte seine Unvorsichtigkeit eiskalt aus und schnappte sich die Soloform.
So weit war also alles ganz in Ordnung und durchaus unterhaltsam. Ich trug eine noch heizungswarme Spätburgunder-Unterhose, hatte am frühen Morgen einige Kleidungsstücke mit der Hand gewaschen (allerdings ohne eine nennenswerte Farbveränderung herbeizuführen) und war sogar zwischen Frühstück und Probe zur örtlichen NKD-Filiale gefahren, um mich mit Topmode zu kleinen Preisen zu versorgen. An dieser Stelle hätte das Wochenende eine Wendung zum Besseren nehmen können. Leider kam aber alles noch viel schlimmer.
Mit Flamme und Hammer
In einer längeren Spielpause, als ich keine Lust hatte, das Handy zur Hand zu nehmen oder mich sonst irgendwie vor dem Taktezählen zu drücken, fiel mir auf, dass ich den Stimmzug meiner Trompete seit längerer Zeit nicht mehr benutzt hatte. Selbst wenn man diesen Zug nicht einsetzen muss, um die Tonhöhe einzustellen, sollte man ihn zu Wartungszwecken ab und zu bewegen. Ich zog den Bogen mit moderatem Kraftaufwand heraus, verteilte das übriggebliebene Schmierfett gleichmäßig auf der Oberfläche und schob ihn dann mit etwas mehr Kraft ganz in das Instrument hinein. Dabei gab es einen ungewöhnlichen Widerstand zu überwinden. Und damit war Feierabend. Der Stimmzug verhielt sich, als sei er festgeschweißt. Weder Körperkraft, Unmengen von Öl, heißes Wasser oder sonstige Tricks konnten ihn lösen. Mein Instrument war verstimmt und mir ging es auch nicht besser.
Das nächste Stück spielte ich auf der maßgeschneiderten Van-Laar-Trompete unseres Bandleaders, doch mit dieser Lösung konnte ich für den Rest des Wochenendes nicht glücklich werden. Das gute Stück ist nicht nur sehr schwer und verlangt dem Trompeter eine Menge an Luft ab, die meine Lungen nicht liefern können. Es war auch so teuer, dass ich eine Heidenangst vor Beulen oder Kratzern hatte und nicht befreit aufspielen konnte.
In dieser verzwickten Situation bewies unser Präsident Ralf H. einmal mehr, dass er ein Meister der Organisation ist. Er machte gegen Mittag über eine kurze Online-Recherche den Instrumentenbauer Klaus Martens ausfindig, der 20 Fahrminuten von Weikersheim entfernt seine Werkstatt betreibt. Ralf überzeugte ihn am Telefon, seinen Laden noch nicht wie geplant fürs Wochenende zu schließen und drängte mich, sofort nach Schrozberg zu fahren, um meine Trompete instand setzen zu lassen. Der gute Herr Martens trieb den Bogen mit Gasflamme und Hammer fachmännisch heraus und erklärte mir, dass ich den Stimmzug in eine Kalkablagerung hineingeschoben habe. Noch zweimal ein Tuch durchgezogen und etwas Fett verschmiert, und die Grundfunktionen der Trompete waren wiederhergestellt. Dachte ich zumindest.
Mit einem nagelneuen Reinigungsset unter dem Arm machte ich mich zurück auf den Weg nach Weikersheim, wo in meiner Abwesenheit mit Symphony das letzte Stück geprobt worden war, bei dem ich mir noch Chancen auf ein Solo ausgerechnet hatte. Aber das war ein zweitrangiger Nebenausläufer meiner Pechsträhne. Und am Ende des Tages gab es sogar noch ein Lob für die Band. Thomas zeigte sich mit der bisherigen Probenarbeit zufrieden und das traditionelle Samstagabend-Dinner konnte kommen. Anschließend machten wir wieder den Jeunesses-Keller unsicher, und um 2.00 Uhr morgens konnte ich noch einen Absacker und ein gutes Gespräch mit unserem Gitarristen Jens W. in der Lobby des Logierhauses genießen.
Die Kraft des Öls
Am Sonntagmorgen eröffnete Thomas die Probe mit einem verhalten optimistischen „Schauen wir mal, was wir am Wochenende gelernt haben“, musste aber schon nach den ersten zwanzig Takten eine energische Aufforderung nachschieben: „Versucht bitte, etwas Spielfreude zu entwickeln. Auch wenn es euch schwerfällt.“
Meiner persönlichen Spielfreude stand leider ein sehr konkretes Problem im Weg. Ich hatte gegen Ende der Samstagabendprobe meine guten Vorsätze in die Tat umgesetzt und war mit dem neuen Reinigungsset auf die Ventilgehäuse meiner Trompete losgegangen. Nach einem solchen Reinigungsvorgang befindet sich logischerweise nicht mehr genug Schmiermittel in den Gehäusen, um für einen reibungslosen Lauf der Ventile zu sorgen. Ich hielt mich an den Grundsatz meines Satzkollegen Toni D. („Unterschätze nie die Kraft des Öls“) und schmierte die Ventile tüchtig ein. Toni macht auch beruflich in Öl und kennt sich aus. Aber obwohl das Öl die ganze Nacht Zeit hatte, um in alle Riefen und Ritzen zu kriechen, lief die Maschine am Sonntagmorgen immer noch nicht. Thomas schaute sich die Sache an und entschied, dass das Instrument in eine Werkstatt gehört.
Es stört die Spielfreude tatsächlich in nicht unerheblicher Weise, wenn sich ein Cis nicht in Wohlgefallen auflösen kann, weil das zweite Ventil in gedrückter Position verharrt, obwohl weit und breit kein Finger zu sehen ist, der es niederdrückt. Zu diesem Handicap kam dann noch eine gepfefferte Ansprache des Bandleaders, die mit dem folgenden Satz begann: „Ich weiß, es ist schwer für euch, aber Rücksicht war noch nie mein Ding.“ Er erklärte uns in eindringlichen Worten den Unterschied zwischen „Noten spielen“ und „Musik machen“. Hatten wir an diesem Wochenende wirklich etwas gelernt? Und, so fragte ich in die Runde, hatte ich diese Pechsträhne verdient? Würde sie bald ein Ende nehmen?
Wahre Worte eines Freundes
In der letzten Pause nahm Tenor-Saxofonist Harald S. mich zur Seite. Er ist nicht nur ein guter Freund, sondern auch der Schöpfer des Begriffs „Toleranzempfinden“, hinter dem sich eine Philosophie verbirgt, die ich noch nicht ansatzweise durchdrungen habe. Harald erklärte mir in deutlichen Worten, dass ich mich nicht über eine Pechsträhne beschweren könne. Pech, so Harald, habe man beispielsweise, wenn man vor die Tür trete und einem ein Dachziegel auf den Kopf falle. Mein Malheur habe damit aber nichts zu tun. „Wenn du eine Flasche Wein auf diese Weise transportierst, musst du damit rechnen, dass so etwas passiert. Und die Trompete streikt, weil du sie nicht gepflegt hast.“ Dem hatte ich nicht viel entgegenzusetzen. Er hatte schlicht und einfach Recht. Und wenn man die Dinge aus der richtigen Perspektive betrachtet, wird einem gleich viel leichter ums Herz und man kann wieder durchstarten.
Im letzten Abschnitt der Probe durfte ich dann plötzlich doch das Solo bei Symphony spielen (auf dem Flügelhorn, um die Trefferquote nicht auch noch durch Ventilklemmer zu senken) und wurde für meinen Spaziergang auf der G-Blues-Tonleiter gelobt. Und was die Band angeht, zeigte Thomas‘ Ansprache sofort Wirkung auf unser Spiel. Im Gegenzug sparte er dann auch nicht mit Lob.
Am frühen Sonntagnachmittag machte ich mich auf den Weg nach Hause und freute mich auf meine Familie. Die Reisetasche im Kofferraum verströmte einen markanten Spätburgunderduft und die Trompete hatte immer noch einen Kolbenfresser. Ich konnte die Dinge aber mittlerweile wieder in dem Licht sehen, das ihnen zukommt. Wäsche lässt sich waschen oder nachkaufen. Eine Trompete lässt sich reparieren. Was wirklich zählt, sind Freunde, Musik und ein leichtes Herz.
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Thomas (Montag, 26 Oktober 2015 12:45)
Wie immer eine gelungene witzige und charmante Zusammenfassung.
Danke Hendrik!
Jens (Montag, 26 Oktober 2015 15:41)
Lieber Hendrik, es kommen auch wieder bessere Zeiten... Danke für den schönen Bericht und das nächtliche Gespräch.
Nicola (Montag, 26 Oktober 2015 16:37)
hihihi, lach mich kaputt! Armer schwarzer Kater ;-)
Toni (Montag, 26 Oktober 2015 18:41)
Lieber Hendrik, Deine Berichte haben mir schon gefehlt. Umso schöner, dass Du für uns wieder geschrieben hast.
Anja (Dienstag, 27 Oktober 2015 13:37)
Lieber Hendrik, wie immer ein treffender Bericht-und auf den Punkt gebracht.
Schön, dass es dir wieder besser geht. Und ich finde es auch toll, dass wir nach all den Jahren immer noch so eine tolle Truppe sind...
Jürgen (Mittwoch, 18 November 2015 09:40)
Wieder ein Bestseller :-)
Nach dem Lesen hatte ich das Gefühl, dabei gewesen zu sein.