Ida mit Auftakt

Von Hendrik Achenbach

Als ich heute Abend gegen 18.30 Uhr ins Auto stieg, um zur Probe zu fahren, hätte ich eigentlich vollkommen entspannt sein müssen. Ich hatte morgens bis 9.30 Uhr geschlafen, einen gemütlichen Urlaubstag zu Hause verbracht und konnte mich nun auf meine erste Bigband-Probe in diesem Jahr freuen (im Januar hatte ich irgendwie kein Glück mit den Probeterminen). Trotzdem war ich unruhig. Würde sich die Tatsache, dass ich von den letzten 1.700 Stunden nur gefühlte 0,5 Prozent an der Trompete verbracht hatte, irgendwie nachteilig auf den Abend auswirken? Und was war mit den ganzen neuen Stücken, die in den letzten Wochen per E-Mail ankündigt worden waren?

Es gibt nichts Besseres

Ida

Der Abend begann mit einer Nummer, die sich zumindest schon seit einiger Zeit in meiner Notenmappe befindet: Three and One. Vermutlich haben wir sie früher schon mal gespielt. Ich wusste nichts mehr davon. Unser CMO Thomas S. erklärte uns, wie die Jungs in der Ära von Thad Jones und Mel Lewis solche Nummern gespielt haben: "Als ob es nichts besseres gäbe und vor Kraft strotzend." Daran, so der Chef, sollten wir uns bitte in Beispiel nehmen.

Auf der ersten Seite sah es noch so aus, als ob daraus vielleicht etwas werden könnte, doch als wir uns bis zum zweiten Blatt vorgekämpft hatten, wurde das Gelände zunehmend schwieriger. Ich hebe in meinen Probenberichten ja gerne Auszüge aus dem Notenmaterial hervor, um zu verdeutlichen, auf welch hohem Niveau wir mittwochsabends leiden, doch bei diesem Stück war die gesamte zweite Seite eine Katastrophe. Gespickt mit fiesen Achtelpausen bietet sie eine Fülle von Gelegenheiten, falsch zu spielen. Dass mal jemand einen Ton in so eine Pause setzt - zum Beispiel ich - kommt ja gelegentlich vor, doch hier lief es so ungünstig für uns, dass mir schon beim ersten Durchgang klar wurde, was passieren würde.

Und so kam es auch: Thomas winkte ab, erläuterte, welches Verbesserungspotenzial sich aus seiner Sicht bot und gab eines seiner typischen Kommandos: "Das ganze Gebläse Ida mit Auftakt!" Was so viel heißt wie: Die Rhythmusgruppe hat Pause und Trompeten, Posaunen und Saxofone (die trotz einiger konstruktionsbedingter Schwierigkeiten ebenfalls zum erweiterten Kreis der Blasinstrumente gehören) müssen antreten.

Grundtöne bitte!

Toni und Anna

Wo wir schon beim Verbesserungspotenzial sind: Bei der ersten Nummer traten mit Anna und Toni zwei unserer besten Solisten auf den Plan, und für mich hörte sich das, was die beiden nacheinander ablieferten, sehr schön an. Thomas flüsterte ihnen aber noch während des Durchgangs geheimnisvolle Kommandos zu, und als wir die Instrumente abgesetzt hatten, forderte er sie auf, bei einer weiteren Runde nicht zu improvisieren, sondern lediglich die Grundtöne der angegebenen Akkorde zu spielen.

Toni war zuerst dran und zeigte eine hohe Treffsicherheit, was die Grundtöne anging. Bei Anna war das ein bisschen anders. Die Grundtöne selbst bereiteten ihr keine Schwierigkeiten, aber nach jedem dieser Töne brach sich ihre überbordende künstlerische Ausdruckskraft erneut Bahn, und sie schickte gleich noch weitere Noten hinterher, die zwar durchaus gut klangen, im unmittelbaren Kontext aber auch mit viel gutem Willen nicht als Grundtöne bezeichnet werden konnten. Am Ende stand Thomas nach Art eines militärischen Ausbilders vor ihr, während sie spielte, formte die Hände vor dem Mund zu einem Trichter und rief immer wieder: "Grundtöne! Grundtöne!" Irgendwann war das Missverständnis ausgeräumt und die beiden intonierten die gewünschten Töne in schönster Eintracht - Anna auf dem Baritonsaxophon und Thomas mit seiner häufig zu Unrecht unterschätzten Singstimme.

Eine Nacht wie keine andere

Mit dabei war heute Abend natürlich auch unser Präsident Ralf H., der auf der letzten Hauptversammlung zu unser aller Freude mit absoluter Mehrheit eine weitere Amtszeit antreten konnte. Er sorgte bei dieser Probe für Verwirrung, weil er seine Verspätung im Vorfeld - exakt 18 Minuten vor Probenbeginn - in einem Rundschreiben ankündigte.

Rundschreiben

Normalerweise passiert ihm das nicht. Aber wie dem auch sei, wir waren froh, als er endlich da war, um den Trompetensatz bei der zweiten Nummer des Abends - A Night Like This - zu unterstützen. Kennen Sie das Stück? Bestimmt. Ich habe es im Bigband-Arrangement auch nicht gleich erkannt, aber ich glaube, jeder, der in den letzten drei Jahren zumindest ab und zu das Radio eingeschaltet oder im Fernsehen Martini-Werbung angeschaut hat, kann den Refrain mitsingen. Dementsprechend kündigte Thomas das Stück an: "Das kennt ihr alle. Easy going." Wir begannen zu spielen und es klang wirklich Martini-mäßig entspannt. Als wir die folgende Stelle erreicht hatten, geschah aber etwas Seltsames:

A Night Like This

Ralf begann amüsiert zu glucksen. Das ist eigentlich ein komisches Wort - "glucksen". Aber ich bin sicher, für genau solche Fälle hat man es erfunden. Es handelt sich weder um Lachen noch um Kichern - jemand, der gluckst, macht komische Geräusche mit dem Kehlkopf und wirkt dabei sehr fröhlich. Es ist natürlich nicht so einfach, zu glucksen, während man Trompete spielt, aber unser Präsident hat schon ganz andere Probleme gelöst. Warum er sich an dieser Stelle so gefreut hat, wusste er später auch nicht zu begründen. Eigentlich besteht nämlich das komplette Stück aus endlosen 3-und-Formationen (zumindest im Trompetensatz). Aber trotzdem - oder gerade deswegen - hat das Stück auch mich glücklich gemacht, denn es kommt extrem selten vor, dass wir ein neues Stück auflegen, durchspielen und ich am Ende nicht nur weiß, wo wir sind, sondern sogar die meisten Töne erwischt habe. Eigentlich kommt so etwas nie vor, wie das nächste Stück eindrucksvoll demonstrierte.

Es endet in Gefühllosigkeit

Hendrik und Thomas

Bei mir kann ja eigentlich jeder machen, was er will, und ich respektiere jegliche künstlerische Freiheit. Aber wenn ein neues Stück sich bei der Tempoangabe mit AFRO-CUBAN 6/8 "FEEL" vorstellt, frage ich mich schon, ob der Arrangeur nicht doch einen leichten Treffer hatte. Wobei sich in diesem Fall - wir reden hier von La Fiesta, ebenfalls eine neue Nummer - herausstellte, dass diese Angabe durchaus treffend beschreibt, was uns erwartete. Vielleicht liegt es ja nur an meinem nordrhein-westfälisch geprägtem Rhythmusgefühl, aber ich habe Schwierigkeiten, mich einem afro-kubanischen Sechsachteltakt, der eigentlich gar keiner ist, sondern sich nur so anfühlt, aber auch das nur in vorsichtigen Anführungszeichen, zu öffnen. Aber, und das ist ganz wichtig: Vorschnelle Urteile über neue Stücke sind gefährlich. Unser CMO vertritt die Meinung, dass man ein Stück erst mal anständig spielen muss, bevor man es nicht gut finden kann. Diese Haltung führt in manchen Fällen, etwa bei mir, natürlich zu deutlich erhöhtem Aufwand (man muss drei Monate leiden, bevor man seine Meinung sagen kann), aber Einzelschicksale haben uns hier nicht zu interessieren.

In den letzten Takten des ersten Durchgangs von La Fiesta zeigten sich übrigens deutliche Auflösungserscheinungen, die darauf zurückzuführen sind, dass etwa zwei Drittel der Musikerinnen und Musiker ein Ritardando spielten, das nicht in den Noten eingezeichnet ist. Als Thomas diese Eigenmächtigkeit in Frage stellte, versuchte ich, unser Verhalten zu begründen, konnte aber nicht überzeugen:

Hendrik: "Es handelt sich um ein gefühltes Ritardando."

Thomas: "Du fühlst noch gar nichts, nicht mal den Puls."

Geheime Nachbesprechung

Die Probe endete mit einer ausführlichen Nachbesprechung beim Italiener in Walldorf, der unser Redebedürfnis mit Pizza, Salat und Wein nur unmaßgeblich einzudämmen wusste. Es gab viele Themen zu diskutieren, und ich weiß, dass unser Lieblingsdrummer Olli B. nur zu gerne einige davon in diesem Bericht wiederfinden würde. Das geht aber natürlich nicht. Probennachbesprechungen bewegen sich per definitionem im rechtsfreien Raum und dort gehören sie auch hin. Wer mehr wissen will, darf beim nächsten Mal mitkommen.