Der Wunsch nach einem einfachen Leben: Probenwochenende 2016

Karte des Mittelrheins von Lencer (https://commons.wikimedia.org/wiki/User:Lencer)
Karte des Mittelrheins von Lencer (https://commons.wikimedia.org/wiki/User:Lencer)

Zwischen Bingen und Bonn durchfließt der Rhein einen Abschnitt Deutschlands, der aufgrund seiner Schönheit von zahlreichen Textern, Komponisten, Malern und Bildhauern so lange beschrieben, besungen, dargestellt und flachgeklopft wurde, bis man ihn zum UNESCO-Welterbe erklärt hat. Ziemlich genau in der Mitte zwischen diesen beiden Städten liegt die älteste römische Rheinsiedlung am rechten Rheinufer: Engers, heute ein Stadtteil von Neuwied, ist die Heimat der Landesmusikakademie Rheinland-Pfalz. Hier hatte Chef-Organisatorin Anja R. uns vom 4. bis zum 6. November für das jährliche Probenwochenende eingebucht.

Das Probenwochenende hat den Sinn, dem aktuellen Programm
den letzten Schliff zu verleihen. Wie es unserem Jubiläumsjahr 2016 angemessen ist, gab es diesmal aber nicht nur ein Programm zu bearbeiten, sondern gleich zwei: Das erste Programm werden wir beim traditionellen Jahreskonzert für SAP-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter am 23. November spielen. Wir freuen uns auf Viviane de Farias und Cris Gavazzoni, die ganz viel Bossa-Nova-Feeling mit nach Walldorf bringen werden. Das zweite Programm ist für den 7. Dezember gedacht. An diesem Tag treffen wir uns mit der großartigen Pe Werner im Mannheimer Capitol, um ein Doppel-Jubiläumskonzert zu spielen.

Aufgrund dieser besonderen Konstellation befanden sich in der Mappe der am Wochenende zu probenden Stücke nicht weniger als 33 Nummern. Bei einer solchen Menge ist es natürlich unverzichtbar, die Band zu einer gewissen Disziplin anzuhalten, was die Pflege der Notenmappen angeht. Unser Bandleader Thomas S. hat ein feines Gespür für solche Notwendigkeiten und kürzlich entschieden, dass jeder, der die Noten eines bestimmten Stücks nicht vorweisen kann, den Betrag von 1,00 EUR in die Bandkasse einzuzahlen hat. Unsere Baritonsaxofonistin Anna T. wurde zu diesem Zweck dem Kassenwart Helmut G. unterstellt, um die erwartungsgemäß in großen Mengen anfallenden Gelder einzutreiben.

Man mag es als Ironie des Schicksals bezeichnen, dass es niemand anderes als Thomas S. selbst war, der – eine empfindliche Geldstrafe fürchtend – kurz vor Beginn der Probe hektisch nach seinen Noten suchte. Es war einer der ganz seltenen Momente, in denen sich Selbstzweifel im Gesicht unseres Chefs breitmachen. Nachdem er einige Male mantraartig den Satz "Ich bin ja liquide" vor sich hingemurmelt hatte, fand sich der gesuchte Stapel Partituren aber schließlich auf einem der der Notenständer.

Der Chef hat natürlich alle Noten dabei.
Der Chef hat natürlich alle Noten dabei.

Hatte dieses Ereignis den musikalischen Leiter für den weiteren Verlauf des Abends milde gestimmt? Ließ er uns vielleicht doch den einen oder anderen Fehler durchgehen? Schon während der ersten Nummer, "Blues in my Shoes", wurde klar, dass damit nicht unbedingt zu rechnen war. Im Saxonfonsatz flackerte eine kurze Diskussion über die Intonation einer übergebundenen Stelle auf, bei der man von der Lesart des musikalischen Leiters abweichen wollte, doch so etwas nimmt bei uns eigentlich niemals ein gutes Ende.

Auf der anderen Seite spendet Thomas Lob, wem Lob gebührt, und bei "Count Bubba", der nächsten Nummer, passierte das Unerhörte. Gleich zwei Mal im selben Stück ernteten die Saxofone eine deutliche Anerkennung. Und zwar nicht nur ein "gut gemacht", sondern ein Lob in ganzen Sätzen: "Da habt ihr gezeigt, was ihr könnt", und so weiter.

Lob und Kritik im Saxofon-Satz. Rechts unten die Schuhe des Satzführers.
Lob und Kritik gehört gleichermaßen zu einer Mitgliedschaft im Saxofonsatz.

Nun ja. Ich persönlich finde, dass man es mit dem Loben auch übertreiben kann. Gerade im Anfangsstadium eines solchen Wochenendes. Und vor allem, wenn der Empfänger des Lobs ein Holzblasinstrument spielt. Aber die große Stunde der Trompeten sollte an diesem Abend auch noch kommen, wenn auch nicht unbedingt auf musikalischem Gebiet, sondern während der traditionellen Freitagsparty.

Vorher gab es aber noch einiges zu tun. Der Chef ließ ein ganz besonderes Highlight des diesjährigen Programms auflegen. "Carol of the Bells" ist ein Opus Magnum, das auf einem traditionellen Weihnachtslied aus der Ukraine basiert und sich über sage und schreibe 472 Takte eines schier nicht enden wollenden Ostinatos erstreckt. In der 5. Stimme, die ich auf dem Flügelhorn spielen darf, ist ein Solo vorgesehen, das in Es-Dur beginnt (wobei man hier aber kein As spielen darf), in "E-Dur lydisch" weitergeht und sich dann – begleitet vom jähen Einsetzen der Saxofone – ein letztes Mal in "A-Dur lydisch" aufbäumt.

Ich wurde für so etwas nicht ausgebildet. Glücklicherweise sieht sich unser Lead-Trompeter Michael K. solchen Herausforderungen aber gewachsen und bat mir freundlicherweise an, das Solo zu übernehmen. Er erhielt auch gleich eine Demonstration von Thomas S., der zunächst aus Bequemlichkeit zu meinem Flügelhorn griff, dann aber mit einer kritischen Bemerkung zur Qualität des Instruments (das er mir kürzlich erst verkauft hat) zu seiner eigenen Trompete wechselte. Darüber wird noch zu reden sein.

Die Solostelle in "Carol of the Bells" wird auf einem Qualitätsflügelhorn von Getzen demonstriert.
Die Solostelle in "Carol of the Bells" wird auf einem Qualitätsflügelhorn von Getzen demonstriert.

Ansonsten gibt es von dieser ersten Probe des Wochenendes gar nicht so viel zu berichten. Es war nicht wie in vergangenen Jahren, als Thomas S. uns schon am Freitagabend derart zusammenfaltete, dass einem das Wochenende plötzlich unendlich lang und bedrohlich erscheinen wollte. Der Chef schien in diesem Jahr im Großen und Ganzen zufrieden mit dem Arbeitsfortschritt zu sein und rief pünktlich um 22.00 Uhr zur Party. Das ließen wir uns natürlich nicht zweimal sagen. Wir versammelten uns im Gewölbekeller der Musikakademie, wo uns nicht nur gefüllte Kühlschränke, sondern auch edle Weine aus dem ebenfalls gut gefüllten Kofferraum unseres Pianisten Frank W. erwarteten.

Anspannung und Entspannung: Party im Gewölbekeller
Anspannung und Entspannung: Party im Gewölbekeller

Derart inspiriert, rief Posaunist Helmut G. schon bald zu einem sportlichen Wettstreit auf, bei dem es darum ging, möglichst viele Liegestütze zu absolvieren. Zum Wettkampf traten bezeichnenderweise nur Trompeter an: Thomas S., Ralf H. und ich selbst krempelten die Ärmel hoch. Nachdem Helmut die Wetteinsätze eingesammelt hatte, erfolgte der Startschuss und kurze Zeit später stand das Ergebnis fest. Da ich die genauen Zahlen nicht im Kopf habe, runde ich ab. An der Entscheidung ändert das nichts:

  • Thomas: 30
  • Hendrik: 50
  • Ralf: 60
60 Liegestütze: Der Präsident auf der Siegerstraße.
60 Liegestütze: Der Präsident auf der Siegerstraße.

Als Teilnehmer muss ich mich bei der Bewertung des Ergebnisses natürlich zurückhalten, aber im Interesse einer unabhängigen Berichterstattung darf ich nicht verschweigen, dass nach dem Wettkampf leider kritische Stimmen aus dem Publikum laut wurden. Die korrekte Ausführung der Übung sei der erreichten Anzahl von Wiederholungen diametral entgegengesetzt gewesen, lautete der Vorwurf. Auf Deutsch heißt das: Je weiter man den Körper absenkt, desto weniger Wiederholungen schafft man. Im Umkehrschluss heißt das wiederum: Thomas hat sehr korrekte Liegestütze abgeliefert (und deswegen "nur" dreißig Stück geschafft), während am anderen Ende der Skala … Aber lassen wir das. Diskretion steht für uns an oberster Stelle und der Videobeweis zur Klärung aller weiteren Fragen liegt der Redaktion vor.

Thomas S. schont sich bei diesen Wochenenden genauso wenig wie uns, und der Morgen nach dem Freitagabend ist immer schwierig für uns alle. Man muss gegen 9.00 Uhr irgendwie aus dem Bett kommen, in das man sich vor gefühlten fünf Minuten gelegt hat. Sonst gibt es kein Frühstück mehr. Und um 10.00 Uhr geht es dann weiter mit der ersten Probe, egal ob der Schädel brummt oder nicht.

Zwei Trompeter begrüßen den neuen Tag mit einem Lächeln.
Zwei Trompeter begrüßen den neuen Tag mit einem Lächeln.

An diese erste Probe habe ich nur wenige Erinnerungen, und auch meine Notizen sind spärlich. Warum auch immer. Es ging gnädigerweise mit "Goodbye Pork Pie Hat" los, einem ruhigen und ausgedehnten Saxofon-Feature mit einem starken, warmen Sound, in den man sich mit geschlossenen Augen fallen lassen konnte, um noch ein wenig von seinem warmen Bett zu träumen.

Unglücklicherweise nicht ganz so überzeugend war der Sound, der beim anschließenden Klassiker "How Insensitive" meinem Flügelhorn entwich. Trotz sorgfältigster Stimmung war das Gis immer viel zu tief, wie sehr ich die Lippen auch schürzte. Wenn Ihnen das auch einmal passieren sollte, schauen Sie nach, ob nicht vielleicht einer der Züge herausgerutscht ist. Und wenn sich das bestätigt, schieben Sie ihn möglichst unauffällig wieder hinein. Man macht sich ja so ungern zum Gespött seiner Mitmusiker.

Gegen Ende der Probe erntete Lead-Saxofonist Jochen R. durch eine unbedachte Äußerung gleich mehrere Einträge auf Annas Strichliste. Unterstützt vom musikalischen Leiter war Anna nämlich dazu übergegangen, nicht nur Fälle zu ahnden, in denen das erforderliche Notenmaterial nicht beigebracht werden konnte, sondern auch andere Vergehen wie "unmusikalisches Verhalten" (was auch immer das sein soll) oder "Widerspruch gegenüber dem Chef". In dieser Situation versuchte Jochen leichtsinnigerweise, eine Schwierigkeit mit der folgenden Aussage wegzudiskutieren: "Es wird einfacher, wenn die Trompeten mitspielen." Was natürlich außer Frage steht; es ist immer besser, wenn die Trompeten mitspielen. Trotzdem lautete Thomas' unerbittliche Antwort: "Es hat keiner gesagt, dass es einfach ist." Und Anna fällte mit ihrem feinen Gespür für Gerechtigkeit ein hartes Urteil: "Vier Striche für den Wunsch nach einem einfachen Leben."

Das Leben in der SAP Big Band ist nicht einfach, aber wir halten zusammen.
Das Leben in der SAP Big Band ist nicht einfach, aber wir halten zusammen.

Die Kasse sollte sich im Laufe des Tages weiter füllen. Nach einem Mittagsschlaf, wie er süßer nicht sein kann, zog Helmut G. gleich bei mehreren Griffen in die Notenmappe blank und es wurde kolportiert, dass eventuell sogar sein Auto verkaufen und mit dem Zug heimfahren müsse, wenn dieser Trend sich fortsetze. Glücklicherweise hat unser Pianist und Notenwart Frank W. immer alle Noten dabei, so dass die musikalische Arbeit, die sich auf die Arrangements für den Abend mit Pe Werner fokussierte, nicht leiden musste. Im Gegenteil: Schon um 17.30 Uhr sprach der Chef die erlösenden Worte: "Seid mir nicht böse, aber ich bin durch für heute."

Auch während eines ausgiebigen Dinners in der Taverne Kunos wurde Thomas seinem pädagogischen Auftrag gerecht und ließ sich ein Wasserglas mit Strohhalm bringen, um die Grundlagen der Zirkularatmung zu demonstrieren. Diese Technik erlaubt es, auf einem Blasinstrument einen Dauerton hervorzubringen, ohne jemals absetzen zu müssen. Ich weiß nicht genau, in welcher Situation ich davon Gebrauch machen würde oder wollte, aber Saxofonist Marko D. wusste von einem Oboensolo in einem Violinkonzert von Brahms zu berichten, das ohne Zirkularatmung unspielbar ist. Immerhin.

Ob die Zirkularatmung auch auf einem Baritonsaxofon durchzuhalten ist, wird sich demnächst zeigen.
Ob die Zirkularatmung auch auf einem Baritonsaxofon durchzuhalten ist, wird sich demnächst zeigen.

Außerdem entstand an diesem Abend eine neue Geschäftsidee, die einige von uns unermesslich reich machen könnte. Einer guten Tradition folgend, skizzierte Thomas S. den Geschäftsprozess auf einer Serviette, die aus Datenschutzgründen aber unter Verschluss gehalten werden muss. Sobald der Börsengang und der anschließende Verkauf der Stammaktien abgeschlossen sind, werde ich mir höchstwahrscheinlich ein anständiges Flügelhornleisten können. Die Aufteilung des Vermögens zwischen Thomas S., Ralf H. und mir, die an diesem Abend beschlossen wurde, habe ich zwar nicht vollständig verstanden, aber ich bin sicher, dass die beiden nur mein Bestes wollen.

Die Abschlussprobe am Sonntagmorgen zeigte wieder einmal eindrücklich, dass Glanz und Elend auch im Bossa Nova nahe beieinanderliegen. Die einen glänzten, die anderen litten noch ein wenig, bevor wir uns auf den Weg nach Hause machten, und so mancher von uns konnte sich Jochens Wunsch nach einem einfachen Leben anschließen - Strichliste hin oder her. Doch auch die letzten Kratzer im Programm werden wir noch auspolieren, bevor die Scheinwerfer eingeschaltet werden, und für euch strahlen wie der Novemberhimmel über Neuwied.

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Kommentare: 3
  • #1

    Jens (Dienstag, 08 November 2016 10:35)

    Vielen Dank lieber Hendrik für den schönen Bericht. Es war mal wieder sehr intensiv mit Euch :-)

  • #2

    Edda (Dienstag, 08 November 2016 17:20)

    Schön war's!!!

  • #3

    Jürgen (Montag, 21 November 2016 11:38)

    Toll geschrieben Hendrik - jetzt habe ich das Gefühl, dabei gewesen zu sein :-)