Über sieben Berge musst du gehen

Das Leben in der SAP Big Band kann so wunderschön sein. Doch bedauerlicherweise ist auch hier nichts von Dauer. Ich bin gerade von einer zweieinhalbstündigen Probe in die Einsamkeit meiner Schreibstube zurückgekehrt und verfasse diese Zeilen in einem Zustand der Erschöpfung, der sich nur durch ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren erklären lässt. Noten. Vorzeichen. Zuviel von allem.

 

Der Sommer war schön

Aber fangen wir von vorne an. Bekanntlich feiern wir in diesem Jahr unser 20-jähriges Jubiläum als Band und können auf einen äußerst vergnüglichen Sommer zurückblicken. Im Juli hatten wir das große Jubiläumskonzert mit Pe Werner und Marc Marshall, sind dann ein paar Wochen in den Sommerurlaub verschwunden und konnten anschließend einen lauen September mit zwei entspannten Konzerten genießen, bei denen wir erstmals mit der wunderbaren Viviane de Farias auftreten durften.

Es gibt viel zu tun

Unser Bandleader und Chief Musical Officer, Thomas S. aus M., würde aber weder seinem Ruf noch seinen Ansprüchen gerecht, wenn er uns erlauben würde, länger als unbedingt notwendig auf der weichen Welle des Erfolgs dahinzugleiten. Und recht hat er: Schließlich stehen im vierten Quartal des Jubiläumsjahres noch zwei wichtige Konzerte an, die den Feierlichkeiten die Krone aufsetzen sollen.

 

Vor diesem Hintergrund hätte ich gestern eigentlich misstrauisch werden sollen, als unser Pianist und Chefnotenwart Frank W. die Noten von nicht weniger als sieben (!) neuen Stücken verteilte. Denn nur einen Tag später folgte eine Tuttiprobe, in der jedes einzelne dieser Stücke durchexerziert wurde. Womit die heutige Probe noch nicht einmal vollumfänglich beschrieben wäre.

Der Weg wird kein leichter sein

Ich persönlich mag neue Stücke ja gar nicht. Jedes einzelne liegt immer wie ein unüberwindlicher Berg auf meinem Weg. Folglich erstreckte sich heute Abend gleich eine ganze Berglandschaft vor mir, dessen Ende nicht abzusehen war. Nicht weniger als sieben Gipfel galt es zu erklimmen. Trotzdem war ich einigermaßen motiviert, denn es handelte sich samt und sonders um Gesangsarrangements, für die ich eine gewisse Vorliebe habe, auch wenn man mich in dieser Band nicht singen lässt. Also schnürte ich sozusagen meinen Wanderrucksack mit Bleistift und Textmarker, um die übelsten Fallstricke im Notenmaterial dokumentieren zu können, und machte mich daran, den ersten Berg zu besteigen.

 

Der Weg sollte kein leichter sein. Er war steinig und schwer. Es muss beim Erklimmen der vierten oder fünften Kuppe gewesen sein, als ich ernsthaft ins Straucheln geriet. Der Trompetensatz, der heute leider ohne die erste und dritte Stimme antreten musste, war aufgefordert, eine bestimmte Stelle alleine zu intonieren. Es gelang mir zwar nach eigenem Empfinden, rhythmisch einigermaßen mitzuhalten, doch harmonisch gesehen war das Ergebnis objektiv und subjektiv gesehen nicht gut. Was leider an mir lag.

Run Simple

Nun muss ich zugeben, dass ich seit jeher gewisse Schwerpunkte gesetzt habe, was das Studium der zur Verfügung stehenden Tonarten angeht. Ganz im Sinne des Unternehmens, dessen Namen wir auch als Band tragen und das sich schon seit längerem das Motto "Run Simple" auf die Fahnen geschrieben hat, galt mein Interesse bisher der knappen oberen Hälfte des Quintenzirkels, was bedeutet, dass Tonarten, die mehr als drei # oder b im Schilde führen, erst einmal wegfallen. Bei "Run Simple" geht es aber keinesfalls darum, es sich einfach zu machen. Der Fokus liegt darauf, unnötige Komplexität zu reduzieren. Das war bisher mein Ziel.

 

Nun zurück zum Einzelvorspiel des Trompetensatzes: Kaum hatten wir die Hörner abgesetzt und den letzten Disharmonien nachgespürt, fühlte ich mich im Dienste der Schadensbegrenzung verpflichtet, auf den exotischen Charakter der vorliegenden Tonart hinzuweisen. 6 Kreuze! Fis Dur, die Tonart des Grauens. Das ist nicht simple, liebe Freunde. Wie zu erwarten war, stieß mein Erklärungsversuch aber nicht auf Verständnis. Es entspann sich stattdessen folgender Dialog:


Thomas: "Hört auf, über die Tonart zu jammern! Kommt mir nicht mit der Tonart! Dann müsst ihr sie halt üben."
(Die zweite Person Plural, die der CMO hier verwendet, ist nicht als Honorificum zu verstehen. Er bezieht lediglich weitere mögliche Kandidaten in seine Replik ein, um den Tonartenaufstand im Keim zu ersticken.)
Hendrik: "Ich habe doch nicht gejammert. Ich wollte nur erklären -"
Thomas: "Natürlich hast du gejammert!"
Hendrik: "OK, dann habe ich eben gejammert. Ich -"
Thomas: "Na dann hör doch auf zu jammern!"

Ich hörte auf zu jammern und fügte mich so weit wie möglich in mein Schicksal. Vermutlich wird mein Lieblingsposaunist Helmut G. mich für unbeherrscht halten, weil er vor mir steht und mitbekam, wie ich im weiteren Verlauf der Probe verpasste Einsätze und ignorierte Achtelpausen mit nur mühsam unterdrückten Flüchen kommentierte. Offenen Widerstand zu leisten wagte ich jedoch nicht mehr.

 

Klartext vom Chef

Unser CMO ist wirklich eine Klasse für sich. Wenn man sich vor Augen führt, dass wir uns schon nach dem ersten, mühsam überstandenen Stück fragten, wie das alles weitergehen soll, ist es wirklich faszinierend, wie er uns heute Abend zielsicher über Stock und Stein und alle sieben Berge führte. Ich kann nicht erklären, wie er das macht, aber seine Art, Klartext zu reden, spielt hier sicher eine Rolle.

 

Ein Beispiel: Nachdem wir die sechste von sieben Nummern gespielt, in Teilen geübt und nochmals gespielt hatten, rief unser Drummer, Olli B., ins Plenum: "Eins ist noch übrig!" Thomas erwiderte: "Also wir machen das schon noch mal im Originaltempo. Oder glaubt ihr, dass das schon gut genug war?" Es gab daraufhin keine weiteren Wortmeldungen. Wir haben es lieber noch mal im Originaltempo gemacht.

 

Die Arbeit an neuen Stücken führt logischerweise auch immer wieder dazu, dass jemand vergisst, die entsprechenden Noten mitzubringen. Während Frank W. sich in solchen Situationen stets vorbereitet zeigt und zusätzliches Notenmaterial aus der Tasche zieht, führte Thomas S. heute Abend eine neue, harte Linie ein und legte folgendes fest: Wer in Zukunft darauf angewiesen ist, sich die Noten vom Notenwart (Frank W.) auszuleihen, zahlt einen Betrag von 1,00 EUR in die Bandkasse. Gleichzeitig sagte Thomas voraus, dass der zu erwartende Erlös uns erlauben werde, schon beim bevorstehenden Probenwochenende Anfang November Ströme von Champagner zu genießen.

Ist gar nicht so schwer

Die Probe nahm ihren Fortgang. Der Chef streute immer mal wieder ein aufmunterndes "Das ist nicht schwer. Das ist alles nicht schwer. Das muss man sich eben zu Hause mal anschauen" ein und so gelangten wir an den Fuß des siebten Berges. Nachdem wir uns eine Referenzaufnahme dieses letzten Stückes angehört hatten, sagte Thomas: "Eine gute Nummer! Macht sie nicht kaputt" und wir legten los. Das Ergebnis klang in meinen Ohren dann auch gar nicht so schlecht und es gelang mir, eine halbwegs schwierige Stelle beim allerersten Mal ohne Fehler vom Blatt zu spielen. Das war sozusagen noch nie da.

 

War ich daraufhin mit dem Abend versöhnt? Ja! Aber leider nur für einen kurzen Moment. Denn als die Wanderung über die sieben Berge abgeschlossen war, ging es munter weiter mit Stücken, die sich bereits im Repertoire befinden. Zum Auslaufen und Dehnen sozusagen. Ich versuchte, mich unauffällig zu verhalten, aber bei der allerletzten Nummer des Abends kreiste das Schicksal noch einmal kurz über dem Trompetensatz, bevor es ein weiteres Mal unerbittlich zuschlug.

 

Das Stück, das wir spielten, endet mit einer ternären Dreiachtelfigur, die von allen Bläsern gespielt wird. Wenn man auf diese Figur einen Text sprechen oder singen wollte, würde zum Beispiel "Jetzt ist Schluss!" passen. Dummerweise war ich ziemlich spät dran. Mein "Jetzt" kam erst, als die anderen schon "Schluss" geblasen hatten und der Rest war dann auch nicht mehr zu stoppen. Es ist erstaunlich, wie deutlich es wahrnehmbar ist, wenn eine Trompete ganze drei Achtel auf einmal spielt, obwohl das Stück eigentlich schon vorbei ist.

 

Der Blick, den Thomas S. mir nach der Probe zuwarf, sprach Bände. In gedämpfter Stimmung packte ich meine Sachen und verabschiedete mich mit einem gedrückten "Lebt wohl". Doch so schnell werde ich wohl aus der ganzen Sache nicht herauskommen. Zum Glück! Denn eigentlich ist das alles ja gar nicht so schwer. Man muss es sich eben zu Hause mal anschauen.

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