Fehlende Noten und doppelte Vorzeichen

Von Hendrik Achenbach

Zur Zeit ist eine Menge los in der SAP Big Band. Die Tutti- und Soloaufnahmen für unsere neue CD liegen zwar schon eine Weile hinter uns, doch der April war geprägt von nächtelangen E-Mail-Schlachten, in denen unser Pianist und Chefgrafiker Frank W. immer neue Entwürfe für die visuelle Gestaltung des Tonträgers vorlegte, um Rückmeldungen einzusammeln und zur nächsten Iteration des Designs vorzustoßen. Das Ergebnis werden wir Ihnen schon bald vorstellen.

Aber auch die Proben waren anders als sonst, denn wir treten in der nächsten Zeit mit verschiedenen Gästen auf. Dazu gehört, man höre und staune, die Sopranistin Janice Dixon. Kaum lädt man einen Star zur Probe ein, zeigt die Band völlig überraschend, wie viel Potenzial zur Disziplin in ihr steckt. Pünktliches Erscheinen und eine zumindest ansatzweise Ordnung in den Notenmappen ist dann plötzlich kein Hexenwerk mehr. Das macht auf der einen Seite Mut, aber andererseits ist es dann umso ernüchternder, wie schnell der alte Schlendrian zu seinem Recht kommt, wenn man wieder unter sich ist und ganz normal probt. Wie zum Beispiel am 14. Mai 2014.

Unser Bandleader Thomas S. eröffnete die Probe mit einem Klassiker und ließ Basie - Straight Ahead auflegen. Nach dem ersten, unvollständigen Durchgang wurde offensichtlich, dass die Saxofone wieder einmal mogelten. In Ermangelung ausreichend diversifizierten Notenmaterials hatte man sich nämlich stillschweigend darauf geeinigt, zu dritt die zweite Stimme zu spielen. Leider war dem geschulten Ohr des Bandleaders aber aufgefallen, dass die erste Stimme nicht zu hören war. "Eigentlich eine super Idee, zu dritt dieselbe Stimme zu spielen", kommentierte er den Sachverhalt. "Warum eigentlich nicht zu viert? Die erste Stimme braucht man doch nicht. Ich glaube, das ist ein guter Weg." Und so ging es weiter, bis Frank W., der nicht nur Pianist und Grafiker, sondern auch Notenwart ist, ein Einsehen hatte und die fehlenden Blätter aus seinem Bestand beisteuerte. Unser Präsident Ralf H. konnte aber trotzdem nicht umhin, lautstark die Wiedereinführung von Geldstrafen für fehlende Noten einzuführen, was zwar ein wenig populistisch anmutete, aber trotzdem die spontane Zustimmung einiger Musikerinnen und Musiker fand.

Während wir das Stück weiter in Einzelteile zerlegten, forderte Thomas die Saxofone und Jens W., unseren Gitarristen, auf, eine Stelle alleine zu spielen. Das lief etwa wie folgt ab:

 

Thomas: "Die Saxofone und Jens alleine ab B." (zählt ein)

Die Saxofone und Jens: (spielen ab B)

Hendrik und Ralf: (spielen ab B)

Thomas: (winkt ab und schaut Hendrik und Ralf an, die ihre Trompeten schuldbewusst sinken lassen): "Ihr seid keine Saxofone!"

Hendrik: "Wir wollen auch gar keine sein!"

Anja: (dreht sich um und funkelt Hendrik bedrohlich an)

Das Stück wurde dann erstaunlich schnell zur Seite gelegt und es ging mit Manteca weiter. Hier winkte Thomas schon nach den ersten Takten ab und schaute Anna fragend an. Sie erwiderte seinen Blick mit der Feststellung: "Ich komme in 9." Thomas konterte mit: "In 5." Anschließend sichteten die beiden zusammen die Baritonsaxofon-Noten und fanden heraus, dass die Takte 1-4 wiederholt werden.

Annas Interpretation der Sachlage war: (1-4) + (1-4) = 8, gefolgt von 9.

Thomas dagegen sah die Sache so: Eins bis vier, nochmal eins bis vier, dann fünf.

Wer hatte recht? Ich muss zugeben, dass hier ein Problem angesprochen wurde, das mich schon oft geplagt hat. Thomas erklärte uns allerdings überzeugend, dass sich die Zählung durch Wiederholungen nicht ändert, weil "das noch niemals so war und auch niemals so sein wird". Ob es deswegen gleich notwendig war, Anna als "verrücktes Huhn" zu bezeichnen, sei dahingestellt, aber grundsätzlich glaubten wir ihm. Er hat das Ganze ja schließlich studiert.

Seine professionelle musikalische Ausbildung war es wohl auch, die dazu geführt hat, dass er mit unserer Tempotreue nicht zufrieden war. "Jetzt haben wir so lange gemütlich zusammengesessen, bis unser Wohlfühltempo erreicht war", kommentierte er einen unserer Versuche, der Latin-Nummer den richtigen Biss zu verleihen. "Ist es aber nicht. Ihr müsst dranbleiben, sonst muss Oli [unser Schlagzeuger, der nicht anwesend war -Red.] uns wieder zusammenprügeln."

Aus dem Posaunensatz waren bei diesem Stück ungewohnte Klänge zu hören, die Thomas gleich mit Vokalmitteln nachbildete ("Bah, Bah!" - die Stimme macht am Ende einen Bogen nach unten). Als Urheber dieses Effekts gab sich der Posaunist Helmut G. zu erkennen. In Anspielung an die diesjährige Siegerin des Wettbewerbs, der in meiner Kindheit Grand Prix Eurovision de la Chanson hieß, den Digital Natives von heute aber eher als #ESC bekannt ist, wurde Helmut in Conchita Schlenzer umbenannt, was ihn selbstverständlich zu neuen Höchstleistungen anspornte. Davon später mehr.

Irgendwann war Manteca aber ausgestanden und es folgte eine Premiere, denn das folgende Stück hatten wir noch nie vorher gespielt: Film Noir - Part I. Über den Verbleib des zweiten Teils ist nichts bekannt, was aber nicht schlimm ist, denn Part I reichte aus, um einige von uns zur Verzweiflung zu bringen. Zunächst einmal wurde ich schon ermahnt, bevor es überhaupt losging, weil ich statt meiner Trompete Bleistift und Reporterblock in der Hand hatte. Thomas äußerte zwar grundsätzlich Verständnis dafür, dass ich mich um meine Laufbahn als Schriftsteller kümmerte, die sich aktuell immer noch, auf einer endlosen Rollbahn dahingleitend, kurz vor dem Abheben befindet. Trotzdem riet er mir, meine Karriere als Trompeter nicht gänzlich zu vernachlässigen. Als ich ihn fragte, auf welchem Gebiet er mir die größeren Erfolgschancen einräume, blieb er mir die Antwort aber schuldig und fragte mich stattdessen, wie es denn so in der Firma laufe. Darüber muss ich noch nachdenken. Aber ich weiß ja, dass er es grundsätzlich gut mit mir meint.

Nachdem ich die Schreibutensilien zur Seite gelegt hatte, konnte es losgehen. Schon nach wenigen Takten tappte ich in eine Falle, auf die Ralf H. mich erst während der nächsten Unterbrechung hinwies:

Im Bild fehlt diese Information, aber das Stück kommt mit zwei Kreuzen als Vorzeichen daher, was dem ausgebildeten Musiker wohl die Tonart D-Dur bzw. h-Moll anzeigt. In dieser Tonart kommt die Note h vor, die im Jazz aber normalerweise als B bezeichnet wird, weil hier Englisch gesprochen wird. Der Ton, den wir im Deutschen b nennen, heißt dann B flat (oder B♭). Wenn wir diese zusätzliche Komplexität einmal kurz ausblenden, fällt uns aber auf, dass dem h in Takt 38 ein zusätzliches Kreuz (#) vorangestellt wurde, das die Note um einen Halbton erhöht. Es wird dadurch zum his, was aber nichts anderes ist als ein c. Durch den Bindebogen gilt das Vorzeichen auch noch in den Takten 39 und 40. Wenn man hier also, so wie ich, kein his bzw. c, sondern ein h spielt, wird es allen auffallen, denn es klingt schief und fürchterlich.

Ich frage Sie, muss so etwas wirklich sein? Kann man nicht einfach die Noten so aufschreiben, dass sie sich ohne wissenschaftliche Voruntersuchung vom Blatt spielen lassen? Und das getarnte c war auch noch nicht alles. In Takt 128 stießen wir nämlich auf ein c, dem ein Doppelkreuz vorangestellt wurde. Ein Doppelkreuz, das ich ohne Ralfs Unterstützung gar nicht als ein solches erkannt hätte, ist so viel wert wie zwei Kreuze, die jeweils einen Halbton repräsentieren. Die Note, die bei diesem Unsinn herauskommt, nennt sich dann cisis, was schon schlimm genug ist, aber als ich mit Ralfs Hilfe dann verstand, dass es sich hier um ein ganz normales d in Verkleidung handelt, fragte ich mich, ob ich im Jazz wirklich noch eine musikalische Heimat sehe.

Diese Frage wurde allerdings schon wenig später mit einem eindeutigen "Ja" beantwortet, als Conchita Schlenzer zu einem gefühlvollen Posaunensolo ansetzte. Und wenn mich meine Augen nicht täuschten, orientierte sich dieser Beitrag tatsächlich an den Akkordsymbolen im Notenmaterial, die im Jazz, wo nichts so heißt, wie man es auf dem Gymnasium gelernt hat, "Changes" heißen. Nach Changes ein Solo zu spielen ist sehr cool. Ich werde es niemals können.

Die nächste Nummer, Just the Way You Are, hält keine gedoppelten Vorzeichen oder übergroße technische Schwierigkeiten bereit. Deswegen rechnete ich hier nicht mit besonderen Vorkommnissen und war schon drauf und dran, Notizblock und Bleistift zu verstauen, als Thomas abwinkte und Jens W. mit unschuldigem Gesichtsausdruck fragte: "Der Gitarrensound, gefällt der uns so?" Dann schaute er Frank W. an und fuhr fort: "Und spielst du ein cleanes Klavier? Beides könnte mehr Esprit haben." Es ist gar nicht wichtig, was die beiden für Argumente ins Feld führen konnten, um die elektronischen Sounds, die sie für ihre Instrumente gewählt hatten, zu verteidigen. Bemerkenswert ist aber, dass die Kritik des Bandleaders zur Abwechslung einmal nicht bei den Bläsern landete, sondern bei der Rhythmusgruppe, die sonst Bank und Burg der Band darstellen.

Der laserscharfe Fokus unseres musikalischen Leiters richtete sich leider trotzdem schon bald wieder auf die Trompeten, genauer gesagt auf mich. Ich will die Begleitumstände, die dazu führten, dass "Hendrik, ich zähle dich ein" für den Rest der Probe zum geflügelten Wort wurde, aber gar nicht näher schildern, denn es gibt noch anderes zu berichten.

Präsident Ralf H. nutzte eine nicht vorhandene Gelegenheit, der Band das Ordnungssystem seiner farbigen Notenmappen vorzustellen (gelb steht für instrumental und rot für Gesang, glaube ich). Thomas schlug daraufhin leichtsinnigerweise vor, dass Ralf ein Buch zum Thema "Ordnungssysteme für Notenmaterial" schreiben solle, was den Präsidenten dazu animierte, einen weiteren Papierstapel aus einer seiner Taschen zu ziehen, den er als "das Backlog" bezeichnete.

Irgendwann ging es dann aber tatsächlich musikalisch weiter und Thomas ließ zum Schluss noch einmal Manteca auflegen. Während der ersten Takte rief er dann: "Wo ist die linke Hand?" Später wurde uns klar, dass die Frage an Frank W. gerichtet war, der die Bassfigur laut Partitur auf dem Klavier mitspielen sollte. Zunächst einmal hoben wir aber alle die linke Hand und winkten dem Bandleader fröhlich zu. An dieser Stelle wäre die Sache fast gekippt, doch irgendwann waren die Lachanfälle vorbei und wir gingen das Stück ein letztes Mal an. Und siehe da, nach der ersten Hälfte winkte Thomas einmal mehr ab, rief aber überraschenderweise im Brustton der Überzeugung "Gut!" und sagte dann den ersehnten Satz, der uns Mittwochs zwischen neun und halb zehn, wenn der Hunger und die Lust auf ein Feierabendbier überhand nehmen, so süß in den Ohren klingt: "Soll mir langen für heute."

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