Man kann den Grundton auch mal spielen

Von Hendrik Achenbach

Es scheint noch gar nicht so lange her zu sein, dass wir unsere letzten Auftritte gespielt und die neue CD veröffentlich haben. Dieser Eindruck täuscht aber: Die Sommerpause, die heute zu Ende gegangen ist, hat fast zwei Monate gedauert.

CMO Thomas S. eröffnete die erste Probe nach der Pause mit der Ankündigung, dass von nun an alle Proben auf unser Jahreskonzert am 8. Dezember ausgerichtet sein würden, auch wenn wir vorher noch andere Termine hätten. Dann stellte er die entscheidende Frage: "Wer hat sein Instrument in den letzten Monaten einmal zur Hand genommen?" Einige verhaltene Meldungen. Zweite Frage: "Wer hat sein Instrument in den letzten Monaten mehr als einmal zur Hand genommen?" Da wurde es schon eng. Nun muss man aber auch offen mit der Tatsache umgehen, dass die Instrumente in einer Bigband sich im Hinblick auf den erforderlichen Körpereinsatz stark von einander unterscheiden.

 

Die Saxophone haben gar kein richtiges Mundstück, sondern eher so eine Art Lutscher, und brauchen folglich auch nichts von dem, was die Bläser als "Ansatz" bezeichnen. Die Rhythmusgruppe macht alles mit den Händen, die man ja ohnehin täglich im Einsatz hat und trainiert. Eventuell muss unser Gitarrist Jens W. sich wieder ein bisschen Hornhaut draufspielen, aber ansonsten passt das schon. Die Posaunen haben zugegebenermaßen ein vollwertiges Blechbläsermundstück, aber auf der anderen Seite ist es so riesig, dass man zur Not das halbe Gesicht darin verschwinden lassen und mit der Kiefermuskulatur intonieren kann. Insofern kam es mal wieder auf uns Trompeten an. Wir haben uns bei der ersten Nummer, Albaufstieg, ganz gut verkauft, aber als es dann mit Basie - Straight Ahead weiterging, wurde die Luft schon etwas dünner. Bei Blues for Kapp gab es einige Probleme mit der Basstimme, weil Armin S. die Notenblätter in der falschen Reihenfolge aufliegen hatte, aber letztendlich ist das bei einem Blues ja auch egal, wenn man das mit den 12 Takten richtig hinkriegt. Eine weitere Nummer vor der Pause war Chameleon von Herbie Hancock. Unser CMO ist davon überzeugt, dass das eine richtig geile Nummer ist. Ich selbst glaube, dass die Jungs Anfang der 70er so einiges geraucht haben, um diese Musik noch viel besser zu finden, aber ich füge mich ja grundsätzlich dem Willen unseres Chefs und spiele brav mit.

 

Nach der Pause ging es mit unserer wunderbaren Sängerin Dagmar K. und Stücken wie Girl Talk oder Till You Come Back To Me weiter. Für mich wurde es dann bei Mercy Mercy Mercy interessant. Wie Sie wissen, bin ich stets bereit, mangelnde Virtuosität durch ungebrochenen Mut zum Solo zu kompensieren. Trotzdem hatte ich mich bis fast zum Schluss zurückgehalten. Bei dieser Nummer konnte ich dem Aufruf unseres CMOs, wer denn wohl ein Solo spielten wolle, aber nicht widerstehen und meldete mich. Es lief auch so weit ganz gut, aber nach dem Stück konfrontierte er mich mit dem alten Stereotyp, dass meine Phrasen stets auf dem C endeten.

 

Natürlich ist das hier und da schon vorgekommen, doch heute Abend fühlte ich mich zu Unrecht kritisiert. Zum einen war das Stück für mich in D-Dur notiert und meine Phrasen endeten stets auf dem D. Der Fachmann wird hier natürlich gleich einwenden, dass dies bei einer B-Trompete einem klingenden C (wie es auf einem Klavier gespielt klingen würde) entspricht. Ich sage das so deutlich, um unserem hochverehrten CMO, Herrn Hochschuldozenten Thomas S., zu zeigen, dass ich mittlerweile ein profundes Wissen über die obere Hälfte des Quintenzirkels aufweisen kann. Zum anderen finde ich, dass es für jemanden, der niemals Einzelunterricht genießen durfte und außerdem so kurze Finger hat, dass er mit Mühe und Not die Ventile herunterdrücken kann, schon eine beachtliche Leistung ist, mit schlafwandlerischer Sicherheit auf dem Grundton zu landen. Deswegen stellte ich Thomas nach der Probe zur Rede. Das klang etwa so:

 

Hendrik: "Thomas?"

Thomas: "Ja, Hendrik?"

Hendrik: "Der Ton, auf dem ich bei meinem Solo gelandet bin, war kein C."

Thomas: "Bist du sicher?"

Hendrik: "Ja, da waren zwei Kreuze."

Thomas: Greift zur Partitur. "Überlegt dir noch mal, ob du dabei bleiben willst."

Hendrik: "Ja."

Thomas schlägt die Partitur auf, sieht die zwei Kreuze, schlägt die Partitur wieder zu.

Hendrik: "Außerdem finde ich, dass es für jemanden mit meinen Fähigkeiten eine beachtliche Leistung ist, sozusagen aus dem Bauch heraus auf dem Grundton zu landen, und ich finde, dass du diese musikalische Entwicklung extrem kritisch begleitest."

Die Umstehenden: lachen

Thomas: "Also ich freue mich natürlich extrem über deine musikalischen Fortschritte."

Hendrik: "Das war gelogen."

Thomas: "Aber es ist nun mal so, dass es im Jazz nicht so gut ankommt, wenn man den Grundton spielt."

Hendrik: "Das heißt, ich muss mir den Grundton denken, aber dann zum Beispiel eins höher spielen?"

Thomas: "Ja, oder die Terz. Man kann den Grundton auch mal spielen, ich mache das auch, aber eben nicht so oft."

 

Ich habe schon irgendwie das Gefühl, dass ich als Sieger aus dieser Auseinandersetzung hervorgegangen bin, aber ich muss trotzdem noch mal darüber nachdenken.

 

Die Nachbesprechung der Probe fand in einem italienischen Lokal in Walldorf statt, dessen Namen ich vergessen habe. Nachdem wir das Essen bestellt hatten - für mich Spaghetti mit Thunfisch, Tomaten, aber ohne Zwiebeln - schwelgten wir in Erinnerungen an unseren Präsidenten Ralf H., der heute Abend leider nicht dabei sein konnte. Dann kam das Essen. Der Kellner stellte die Spaghetti auf den Tisch, doch kaum hatte ich mit der Gabel die ersten Zwiebelstücke identifiziert, drängte der Koch sich nach vorne, informierte mich, dass der das mit den Zwiebeln leider vergessen habe, und nahm den Teller wieder mit. Nach einigen Minuten, die ich damit verbrachte, den anderen beim Essen zuzuschauen, kamen die Spaghetti ohne Zwiebeln. Neben den Nudeln, dem Thunfisch und den Tomaten, die grundsätzlich ein durchaus wohlschmeckendes Ganzes bildeten, befand sich im Teller aber eine beachtliche Menge Flüssigkeit, die vermutlich der gebotenen Eile geschuldet war. Deswegen verweigerte ich nach einigen Bissen die Nahrungsaufnahme, was aber wirklich nicht tragisch war. Mein Hunger hielt sich in Grenzen und ich war bereit, die ganze Sache einfach abzuhaken.

Als der Kellner beim Abräumen merkte, dass ich kaum etwas gegessen hatte, erkundigte er sich nach dem Grund, und bat mir daraufhin an, einen Salat oder eine andere Speise als Ersatz zu servieren. Ich lehnte dies ab, weil ich nicht sehr hungrig war und in den nächsten Minuten aufbrechen wollte. Kurze Zeit später kam er aber wieder und fragte im Auftrag der Küche, ob ich eine Portion Tiramisu akzeptieren würde. Ermutigt durch den johlenden Rest der Bigband stinmte ich zu, um kurz danach einen Nachtisch in der Größe eines Ziegelsteins serviert zu bekommen.

Zum Glück hatte ich die Geistesgegenwart, um zusätzliche Löffel zu bitten, und wurde auch nicht enttäuscht. Die Jungs und Mädels haben sich quer über den Tisch gelegt und dem Tiramisu-Ziegelstein in etwa 90 Sekunden den Garaus gemacht.

Sie sehen, wir haben nach wie vor kein leichtes Leben, sind aber trotzdem weiterhin wild entschlossen, tolle Musik für Sie zu machen.