Über allen Gipfeln ist Ruh

Von Hendrik Achenbach

Unser letzter Auftritt liegt in meiner subjektiven Wahrnehmung noch gar nicht so lange zurück, aber trotzdem waren mit dem heutigen Datum schon 25 Tage vergangen, seit wir zum letzten Mal miteinander Musik gemacht hatten. Diese Durststrecke sollte heute Abend jedoch enden, denn unser CMO Thomas S. hatte zur ersten Probe in 2010 eingeladen.


Während der Winterpause hatte ich es gewagt, mich selbst bei der freien Improvisation im heimischen Arbeitszimmer zu filmen und diese Aufnahme mit dem Rest der Welt zu teilen. Sie wissen ja, dass ich bei so etwas kein Pardon kenne. Zu dieser Aufnahme erreichte mich dann auch prompt eine Manöverkritik unseres CMOs, die den Verbesserungsbedarf in Bühnenausdruck, Kleidung, fehlendem Lächeln in ebenfalls fehlenden Spielpausen usw. treffsicher konstatierte, aber auch viel Positives enthielt. Deswegen sah ich der heutigen Probe durchaus fröhlich entgegen, wenn auch bei der Vorbereitung gleich etwas schief ging.


Im Vorfeld der Probe hatte Thomas mich nämlich darum gebeten, den Musikerinnen und Musikern mitzuteilen, welche Stücke heute Abend aufliegen würden. Wenn Sie unsere Probenberichte regelmäßig lesen, dann wissen Sie, dass wir in den letzten Proben zwar verstärkt Latin und Swing aus unserem Repertoire gespielt haben, um uns auf diverse Auftritte vorzubereiten, aber grundsätzlich schon seit einiger Zeit an einem neuen Programm arbeiten, in dem es um modernen Jazz von Komponisten und Arrangeuren aus Deutschland und Europa geht. Deswegen proben wir natürlich auch verstärkt Stücke mit deutschem Titel, und diese sind teilweise schon ein bisschen komisch (auch wenn die Musik durchaus zu gefallen weiß). Beispiele gefällig? Da wäre etwa An hellen Tagen oder Der Professor. Ein Stück heißt gar Ohne Worte. Vor diesem Hintergrund unterlief mir eine folgenreiche Fehlinterpretation der Liste von Stücken, die Thomas mir geschickt hatte. Diese endete nämlich mit dem Punkt "ein Neues". Da Thomas sich in seiner Nachricht, wie so oft, in Sachen Groß- und Kleinschreibung die künstlerische Freiheit genommen hatte, die wir ihm alle natürlich gerne zugestehen, dachte ich, dass es sich um ein Stück mit dem klassisch angehauchten Titel Ein Neues handele (ich muss wohl unbewusst an Ein Gleiches gedacht haben). Deswegen passte ich die Schreibung in meiner Nachricht an die Band entsprechend an, womit ich mir mehrere verwirrte Anfragen einhandelte, ob die Noten von Ein Neues schon ausgeteilt wurden. Eine entsprechende Nachfrage bei Thomas ergab zunächst einmal, dass er natürlich ein neues Stück mitbringen werde (Zitat: "Ein Neues bedeutet ein Neues was so viel heißt dass ich ein Neues mitbringen werde." - autsch). Zum anderen löste meine Nachfrage aber eine Grundsatzdiskussion über Groß- und Kleinschreibung zwischen uns beiden aus, die ich zu meinen Leidwesen verloren habe. Im Fall von "ein Neues" hat er nämlich leider alles richtig gemacht, indem er das substantivisch gebrauchte Adjektiv groß schrieb. Also musste ich die Band über das kleine Missverständnis aufklären und war dankbar, dass sich die Anzahl der spöttischen Antworten in Grenzen hielt.

So viel also zur Vorgeschichte der Probe. Zu Beginn wünschte Thomas allen ein gutes neues Jahr und verlieh seiner Hoffnung Ausdruck, dass alle Bandmitglieder gute Vorsätze für 2010 hätten. Er informierte die Band auch netterweise gleich darüber, dass mein persönliches Ziel in einer Gewichtsreduktion liege, obwohl er selbst auch das eine oder andere Weihnachtsplätzchen zu sich genommen zu haben schien. Ich weiß auch gar nicht, woher er meine Vorsätze kennt. Aber egal, wir starteten frohgemut mit An hellen Tagen und gaben unser Bestes. Leider reichte dies bei weitem nicht aus. Die Band ist ja seit Jahren dafür bekannt, dass sie in der ersten Probe nach einer Pause einige Prozent unterhalb der theoretisch möglichen Höchstleistung liegt, aber heute mussten wir uns nach der ersten Nummer doch eine unerwartet heftige Standpauke von Thomas anhören. Er verstehe nicht, so unser CMO, wie man in knapp vier Wochen so viel vergessen könne, aber es sei offenbar möglich. Auch beim nächsten Stück, Cactus, bescheinigte unser Bandleader uns eine schreckliche Performance.


Interessant wurde es bei Ohne Worte. Wenn Sie noch einmal in den Probenbericht vom 16. September schauen, werden Sie sehen, dass dieses Stück gleich zu Anfang eine besonders gemeine Pausenfalle enthält. Eine Pausenfalle besteht aus einer Pause, die besonders dazu geeignet ist, in sie hineinzuspielen und sich somit lächerlich zu machen.
 Dies war mir im September leider passiert, und Thomas prognostizierte heute eine Wiederholung dieser Peinlichkeit:

Thomas: Pass auf die Pause auf.
Hendrik: Welche Pause?
Thomas: Die, in die du gleich hineinspielen wirst.

Es gelang mir aber, diese Klippe zu umschiffen, indem ich die ersten Takte komplett ghostete (ghosten = Noten weglassen, wobei die Idee hier eigentlich ist, sich auf einzelne Noten zu beschränken, deren Fehlen den Gesamteindruck nicht beeinträchtigt). Umso bemerkenswerter war es, dass Ralf H. (3. Trompete) und Michael K. (1. Trompete) einige Takte später einen bestimmten Ton einige Schläge länger aushielten als der Rest der Band. Dieses Ereignis wurde dann unterschiedlich interpretiert: Die Saxofone sprachen sich für "in die Pause gespielt" aus und erhielten prominente Unterstützung von unserem CMO. Michael und Ralf dagegen beharrten darauf, dass der Rest der Band falsch gespielt habe. Das Ganze ist für mich natürlich ein Dilemma, denn wie ich den Vorfall an dieser Stelle auch bewerte: Entweder verderbe ich es mir mit dem Bandleader oder mit dem Präsidenten plus Trompetensatzführer. Deswegen gehe ich lieber schnell zum nächsten Punkt über und erwähne, dass dieses Stück in einer Dissonanz endet, die förmlich nach Auflösung schreit. Sie schreit jedoch vergeblich. Das hat der Künstler so gewollt. Thomas hat angedroht, das derjenige, der dennoch den alles erlösenden Ton spielt, der Band eine Kiste Bier spendieren muss. Ich habe mich schon informiert, welcher Ton das in meinem Fall wäre (ein tiefes C) und spiele mit dem Gedanken, vor der nächsten Probe schnell in den Getränkemarkt zu fahren. Man lebt schließlich nur einmal.

Als vorletztes Stück gab es das Arrangement einer Fernsehmelodie aus den siebziger Jahren, welches auf Anregung unseres Pianisten Frank W. (der heute auf Grund eines technischen Problems rein optisch ein gewisses Heimorgelfeeling aufkommen ließ, weil er sein Nord auf einem Kantinentisch aufbauen musste) eigens für uns geschrieben wurde. Das Arrangement ist ganz neu und wurde noch nie aufgeführt. Deswegen verrate ich auch noch nicht, worum es sich handelt. Wir waren alle sehr angetan und schwelgten in Kindheitserinnerungen, wobei Thomas uns glaubhaft versicherte, dass er die Sendung damals nicht sehen konnte, weil er bis zu seinem 18. Lebensjahr Kohle schaufeln musste und sich erst dann einen Fernseher leisten konnte. Ich habe mir ja schon immer gedacht, dass er eine schwere Kindheit gehabt haben muss. Ich sage: Respekt. Und es ist ja trotzdem etwas aus ihm geworden: Trompeter, Plattenboss, Bandleader und - Komponist. Das letzte Stück, das wir heute spielten, war nämlich ein Bigband-Arrangement seiner Komposition Steps In Time, eine Nummer, die er mit seinem Trio auf der CD Kitchen Music aufgenommen hat. Am Ende des Stückes beendete Thomas die Probe mit einem leisen "Gut. Es gibt viel zu tun." Recht hat er! Packen wir es an.