Ein Stück vom Glück: Probenwochenende 2012

Von Hendrik Achenbach

Der wichtigste Termin im Kalender der SAP BIG BAND ist das Jahreskonzert Ende November, bei dem wir den SAP-Kolleginnen und -Kollegen unser neues Programm vorstellen. Diesem Termin nähern wir uns mit Riesenschritten. Das Konzert findet am 28. November statt und ist den Zeichentrickhelden unserer Kindheit gewidmet. Deswegen haben wir uns auch in diesem Jahr wieder für ein Wochenende in der Pfalz einquartiert, um schrecklich viel Wein zu trinken und das Konzert vorzubereiten.

Zwischenstopp auf einer höheren Lage

Auf der Hinfahrt am Freitag hielt der kommende Mann im Posaunensatz, Helmut G., es für angebracht, einen Zwischenstopp bei der Winzergenossenschaft Wachenheim einzulegen, um zur Vorbereitung der traditionellen Freitagabendparty eine Weinprobe durchzuführen. Ich selbst habe ja keine Ahnung von Wein, aber Helmut wusste durch solide Kenntnisse zu überzeugen und diskutierte mit dem Genossen hinter der Theke auf Augenhöhe ("Gibt es den auch aus einer höheren Lage?") Deswegen kamen wir wenig später mit sorgfältig ausgewählten Weinen am Martin-Butzer-Haus in Bad Dürkheim an und Helmut ließ es sich nicht nehmen, gleich beim Abendessen eine Flasche Riesling kreisen zu lassen.

Riesling zum Abendessen

Das hatte eine neue Qualität - normalerweise fließt der Wein immer erst nach einer unglaublich anstrengenden Probe. Es hat uns aber nicht geschadet und sollte als Anregung für die kommenden Jahre dienen.

Der CMO lässt die Muskeln spielen

Nach einigen hastigen Schlucken ging es dann aber los und unser CMO Thomas S. eröffnete die erste Probe  mit seinem berühmten Tonkreisen. Die Band steht dabei im Kreis (oder eher in einem Rechteck) und der CMO in der Mitte. Er zeigt nacheinander im Uhrzeigersinn auf die einzelnen Musiker, die für einen kurzen Moment ein C spielen und den Ton sozusagen an den Nebenmann weitergeben. Hier hatten die Saxophone leider mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Der sequentielle Ablauf der Übung erschloss sich ihnen nur teilweise, was dazu führte, dass sie sich gelegentlich selbst überholten und dafür natürlich qualifiziertes Feedback vom musikalischen Leiter erhielten.
Auch im Fortgang der Probe stand der Saxophon-Satz eindeutig im Zentrum der Kritik. Das glaubt mir als Trompeter kein Mensch, denn die alte Rivalität zwischen Saxophonen und Trompeten ist ja mittlerweile sprichwörtlich. Trotzdem war es so. Ich kann es leider nicht ändern. Will ich natürlich auch nicht. Als Thomas die Holzbläser den Anfang von The Simpsons alleine vorspielen ließ und sich kritisch dazu äußerte, platzte es aus Edda S. heraus: "Das ist scheiße hoch und schlecht zu greifen." Aber selbst bei Edda, die für die perfekte Organisation des Wochenendes höchstes Lob verdient hat, kannte Thomas keine Gnade und reagierte in einer Art und Weise, die wir im Verlauf des Probenwochenendes als seine neue Härte kennenlernen würden. Es sagte hier nämlich zum ersten, aber nicht letzten Mal: "Keine Ausreden! Wir müssen lernen, selbständig nach Lösungen zu suchen." Später kamen dann Sätze wie: "Das Stück verzeiht es nicht, wenn man sich zurücklehnt."

Partituren auf dem Boden verstreut

Nun kennen wir Thomas ja schon seit Jahren als jemanden, der kein Blatt vor den Mund nimmt und Aussagen auf den Punkt bringen kann. Als Bernd S. nach einem mächtigen Posaunensolo ins Kreuzverhör geriet und erklärte, er habe absichtlich falsch gespielt, erläuterte der CMO aber sehr ausführlich, was man eigentlich unter einer Inside-Outside-Improvisation verstehe und legte besonderen Wert darauf, dass man eine Tonart nur unter eindeutigen Rückkehrabsichten verlassen dürfe. Alles nicht neu, alles richtig, aber die eine oder andere Ansage, die wir im Laufe des Abends erhielten, ließ trotzdem vermuten, dass ein anstrengendes Wochenende mit vielen Lerngelegenheiten vor uns lag.

Anaconda mit Brombeeraroma

Acolon

Irgendwann durften wir uns aber, einem liebgewordenen Brauch folgend, ins Kaminzimmer zurückziehen und entspannen. Hier kam dann auch ein ganz besonderer Wein zur Geltung, den wir unpräzise, aber liebevoll "Anaconda" nannten. Ich persönlich frage mich ja immer, was die Leute, die sich auf den Etiketten der Weinflaschen über "Brombeeraromen" oder "Kirschnoten" auslassen, für Nasen und Zungen haben müssen, aber bei diesem Tropfen hatte ich schon während der Weinprobe mit Helmut eindeutig verschiedene Früchte ausmachen können und aktzeptierte deswegen dankbar das eine oder andere Schlückchen davon.

 

Aber nicht jeder hatte an diesem Abend einen Sinn für gehobene Weinkultur, und so flossen auch andere köstliche Dinge durch unsere Kehlen, aus denen in umgekehrter Richtung immer wieder tiefsinnige Gesprächsbeitrage zu hören waren. Als ich um 3.22 Uhr auf meiner Bettkante saß, konnte ich auf einen gelungenen Abend zurückblicken und hatte lediglich mit den eisigen Temperaturen in meinem Zimmer zu kämpfen. Da aber ein Unglück selten alleine kommt, bekam Väterchen Frost eine Viertelstunde später Gesellschaft in Gestalt meiner Zimmergenossen Konsul Toni D. und Präsident Dr. Ralf H., die im Wein offenbar eine ganze Menge Wahrheit gefunden hatten und bis zum Morgengrauen eine ebenso gehaltvolle wie lautstarke Diskussion über grundsätzliche Fragen unseres Daseins führten.

 

Drei Viertel, vier Viertel

Ich persönlich finde es ja sehr wichtig, solche nächtlichen Gespräche zu führen. Auf der anderen Seite bezahlt man dafür einen hohen Preis - besonders, wenn man in einer Einrichtung untergebracht ist, deren Essenszeiten im preußisch-militärischen Erbe verwurzelt scheinen. Frühstück wird im Martin-Butzer-Haus nämlich nur von 8.15 bis 9.00 Uhr serviert. Deswegen beschränkten sich manche von uns darauf, vor der nächsten Probe, die am Samstagmorgen um 10.00 Uhr begann, eine Tasse Kaffee und zwei Aspirin zu sich zu nehmen. Die Probe begann dann auch passend mit Stolen Moments. Mir war bei diesem Titel fast so, als ob der CMO mit diesem Stück sagen wollte: "Seht her, letzte Nacht gab es viele Momente, in denen man ins Bett hätte gehen können, aber ihr habt sie euch wegnehmen lassen." Es kann aber gut sein, dass das alles totaler Käse ist. Schließlich war ich so müde, dass meine Wahrnehmung mir alle möglichen Streiche spielen konnte.
Es gab bei diesem Stück dann aber, obwohl der Tag noch jung war, gleich einen ganzen Reigen von guten Solisten, darunter auch Künstler wie Helmut G., die sich sonst an der Solofront sehr rar machen. Und gleich danach legte Thomas Die Sendung mit der Maus auf, ließ das Stück einmal durchspielen und ohne weitere Kritik wieder weglegen. Es sah also fast so aus, als würde es aufwärts gehen.
Dann geriet unsere bezaubernde Sängerin Dagmar K. aber unvermittelt ins Visier des CMOs, als sie sagte: "Mach mich mal lauter, ich höre mich so gut wie gar nicht."
"Na sei froh", erwiderte Thomas und schloss damit an die Freitagsprobe an, wo er Dagmar schon einmal so heftig durch die Feedbackmangel gedreht hatte, dass ich mich aufgefordert sah, sie nach der Probe nach ihrem Gemütszustand zu befragen (der übrigens vollkommen stabil und von Dankbarkeit für das wertvolle Feedback erfüllt war).
Thomas wusste während des gesamten Wochenendes durch multi-instrumentalistische Fähigkeiten zu überzeugen: Er ersetzte Olli B. am Schlagzeug, wenn dieser kurz mal verschwinden musste, sang Dagmar K. die eine oder andere Strophe von Herrn Rossi vor, der ein Stück vom Glück sucht, schaute gelegentlich am Piano vorbei, um Harmonien zu analysieren und nahm natürlich auch immer mal wieder die Trompete zur Hand.

Multi-Instrumentalist

Die Autorität des CMOs geriet trotzdem kurz ins Wanken, als er The Chicken mit "One, two, three, four" einzählte, obwohl dies bei einem 3/4-Takt zu unvorhersagbaren Ergebnissen führen kann. Er steuerte jedoch gleich wieder zurück auf die Erfolgsspur, packte seine goldende Trompete aus und lieferte sich mit Saxophonist Harald S. eine call-and-response-mäßige Solobattle, bei der es so richtig anfing zu grooven.

Fische und Bananenschalen

Derart angeshufflet führten wir nach der Probe einen kurzen Umtrunk durch, bevor wir ein örtliches Restaurant aufsuchten, um das Abendessen einzunehmen. Chef-Organisatorin Edda S. hatte im Vorfeld des Wochenendes eine Menükarte zum Ankreuzen zur Verfügung gestellt, weshalb wir alle schon wussten, was uns serviert werden würde. Das heißt, fast alle. Alle außer mir. Als ich mich bereits durch einige Zentimeter auf der Haut gebratenen Zander und Kartoffel-Möhren-Stampf gearbeitet hatte, fiel mir nämlich siedendheiß ein, dass ich nicht den Fisch, sondern die Ravioli angekreuzt hatte. Und wie das Schicksal es so will, war der Zander für Michael K. bestimmt, der mir nicht nur gegenüber saß, sondern als Leiter des Trompetensatzes natürlich gewisse Möglichkeiten hat, Strafaktionen durchzuführen. Zum Glück mag er Ravioli und blieb vollkommen entspannt, während er mich dabei beobachete, wie ich seinen Fisch aufaß. Also noch mal Glück gehabt. Die nächste Satzprobe bleibt aber natürlich abwarten, bevor ich mich wieder vollkommen sicher fühlen kann.

Nachtisch

Nachdem wir uns unter Eddas Anleitung mit der Frage beschäftigt hatten, warum es sich viel besser anfühlt, wenn man kein Unterhemd unter dem Oberhemd trägt, war es Zeit, den Nachtisch zu bestellen. Hier zeigte Thomas, dass er auch im nicht-musikalischen Raum zu führen versteht. Als man nämlich Helmut G. ein Sorbet mit der Begründung verweigerte, dass es zwar auf der Hauptkarte, jedoch nicht auf unserer Auswahlkarte stehe, ging der CMO mit der sympathischen Bedienung in ein kurzes, aber effektives Einzelgespräch, und kurze Zeit später stand das Sorbet auf dem Tisch.

Nach dem Fußmarsch zurück ins Martin-Butzer-Haus saßen wir wieder im Kaminzimmer zusammen, wenn auch nur in kleinerer Runde, weil einige von uns sich nicht schon wieder die Schlafmomente stehlen lassen wollten.

Es wurde kurz weihnachtlich, als wir eine Aufnahme von Last Christmas (I Gave You My Heart) hörten, das Rob Spelberg für Bigband arrangiert hat. Wenn Sie das Original des Stücks nicht kennen und sich auch nicht die Mühe machen wollen, es auf YouTube zu suchen, dürfte in den nächsten Wochen auch ein Besuch im örtlichen Supermarkt ausreichen, wo die Nummer vermutlich in Endlosschleife über die Beschallungsanlage läuft.

Nach dieser Hörprobe saßen wir weiter gemütlich zusammen. Wie der Abend im Kaminzimmer endete, kann ich jedoch nicht sagen, denn auch ich machte mich gegen viertel nach eins auf den langen Weg in mein Zimmer.

 

Flur

Dort angekommen, sah ich, dass sich Konsul Toni D. schon früher auf die Suche nach Schlafmomenten gemacht hatte. Er war zwar noch (oder schon wieder) wach, lag aber im Bett, hatte die Decke bis zum Kinn gezogen und sah ganz schön geschafft aus. Wir wechselten ein paar müde Worte, bevor ich ins Badezimmer ging, wo mich der folgende Anblick erwartete:

Zahnbürste und Banane

Was war da los? Welche Botschaft verbarg sich hinter der Bananschale, die aussah, als sei sie bewusst auf dem Regal über dem Waschbecken drapiert worden? War es ein Versuch, die Sterilität des gekachelten Raums durch ein buntes Accessoire etwas abzumildern? Oder doch eine versteckte Drohung?

Auf der Suche nach Harmonie

Am nächsten Morgen bei der Abschlussprobe, die für 10.00 Uhr angesetzt war, zeigte sich dann, dass es eine kluge Entscheidung gewesen war, zu einer halbwegs vernünftigen Zeit ins Bett zu gehen, denn gleich beim ersten Stück gab es einen ordentlichen Anpfiff von Thomas, weil einzelne Musiker technische Probleme mit ihren Notenblättern hatten. Er war ja insgesamt recht streng in diesen zwei Tagen, aber unsere fehlende Notendisziplin macht ihn manchmal wahnsinnig - zu Recht.
Ein relativ großer Teil der Abschlussprobe war Last Christmas gewidmet. Das lag zum einen daran, dass wir das Arrangement erst vor kurzem erhalten haben. Zum anderen machte Thomas sich auf die Suche nach der Auflösung am Schluss, was einige Zeit kostete. Ich spreche hier nicht von einem Rätsel, sondern von einer aufzulösenden Harmonie. Vor einiger Zeit haben wir ein anderes Stück gespielt, das ebenfalls mit einem bewusst nicht aufgelösten Akkord endete. In diesem Fall hatte Thomas noch eine Runde Bier als Strafe für den angekündigt, der es wagen würde, trotzdem den auflösenden Ton zu spielen. Bei Last Christmas war es interessanterweise umgekehrt - wir suchten die Auflösung, fanden aber keine befriedigende Lösung. Trotzdem ist es ein tolles Arrangement. Mal sehen, ob der CMO es kurzfristig mit ins Programm nimmt.
Bei einer anderen Nummer, die am Sonntagmorgen noch mal dran war (The Chicken), gibt es eine Stelle, die es unbedingt erfordert, drei Viertelnoten deutlich voneinander abzusetzen:

Nicht zu lang!

Thomas erklärte uns die Wichtigkeit dieser Stelle wie folgt: "Ihr könnt so gut spielen, wir ihr wollt - wenn ihr diese drei Noten lang spielt, klingt es scheiße. Nach Schüler-Bigband 8. Klasse mit dem Easy Pack The Chicken." Nach dieser Erläuterung fingen wir noch mal von vorne an, und dummerweise gerieten mir die drei Töne wieder zu lang. Bei der nächsten Unterbrechung, die nicht lange auf sich warten ließ, ergab sich folgender Dialog.

 

Thomas: "Da hat wieder jemand zu lang gespielt.

Hendrik: "Ja, ich, deswegen habe ich gleich abgebrochen und eine Notiz angefertigt.

Thomas: "Daran hätte man ja theoretisch auch schon denken können, als ich es erklärt habe.

Hendrik: "Ja."

 

Und siehe da: Ich erntete ein mildes Lächeln. Die Hand, die strafen kann, kann eben auch streicheln. Im Gegensatz zu unserem Präsidenten, der sich gerne mit selbstverteidigenden Sprüchen in Gefahr bringt (Beispiel vom Wochenende: "Ich war lediglich dabei, den Lösungsraum weiter zu erforschen"), hat mir in diesem Fall ein einfaches "Ja" den Kopf gerettet. Wobei "den Lösungsraum erforschen" ein wunderbares Bild ist - ich werde mir die Formulierung gleich ins Nähkästchen legen.

Ralf war es übrigens auch, der das Bananenschalenrätsel auflösen konnte. Er hatte die Schale aus olfaktorischen Gründen über dem Waschbecken drapiert. Der Duft meines Bodysprays konnte nämlich nicht seine Zustimmung finden und die Schale hatte die Aufgabe, ihn zu neutralisieren und das Bad mit einem natürlichen Geruch zu erfüllen. Für mich war das ein ganz neuer Ansatz, aber ich denke, das kann schon funktionieren. Besonders, wenn man die Möglichkeit hat, die Schale länger liegen zu lassen. So zwei oder drei Wochen vielleicht.

Wir spielten noch das eine oder andere Stück, aber dann war es irgendwann vorbei, was uns doch sehr plötzlich vorkam. Die letzte Note war gespielt, das Mittagessen vorüber, die Instrumente und übriggebliebenen Weinflaschen in den Autos verstaut und es war Zeit zu gehen. Im Rückblick kann man dieses perfekt organisierte Probenwochenende nur loben. Wir haben eine tolle Band, einen musikalischen Leiter, der uns anspornt und einen Präsidenten, dem wir auch in Zukunft in neue Lösungsräume folgen werden. Es war also mal wieder ein voller Erfolg und für mich persönlich ein kleines Stück vom Glück.